Dienstag, 5. Februar 2013

Die Himmlischen Verweilungen



Die sogenannten Himmlischen Verweilungen sind zentraler Bestandteile des Buddhismus. Sie umfassen
die liebevolle Zuwendung, das Mitgefühl, die Mitfreude und die Gleichmut.
Sie heißen im Pali brahmaviharas und sind eng mit den Grundlagen der Achtsamkeit verknüpft. Zudem bilden sie meines Erachtens mit dem Samādhi und den vier Vertiefungen, also nicht zuletzt des Zazen, eine unauflösbare Einheit und sind mit den Begriffen der Unermesslichkeit und der grenzenlosen Ausdehnung verbunden.

Eine verkürzt verstandene Achtsamkeit, die nur das Ich in den Mittelpunkt stellt und nur den Erregungen einer solchen Ich-Zentrierung nachspürt, ist in der großen Gefahr, im „modernen“ Individualismus stecken zu bleiben und die Öffnung für andere Menschen gerade nicht zu ermöglichen. Das ist kein Buddhismus. Den die liebevolle Zuwendung als Himmlische Verweilung ist genau das Gegenteil der Ego-Zentrierung und Abgrenzung von anderen, sei es auch nur in der Meditation oder – und das nicht zuletzt – im täglichen Handeln in den sozialen Gemeinschaften.
Die bekannte buddhistische Lehrerin Sylvia Kolk überträgt den Pali-Begriff brahmavihara folgendermaßen ins Deutsche:

„Brahmavihara wird übersetzt mit göttliche Verweilungsstätte, göttlicher Verweilungszustand oder mit himmlische Verweilung.“

Was ist damit gemeint? Kolk erklärt es so: „Brahma ist einer der höchsten Götter im alten Indien und stellt sinnbildlich die Quelle der Liebe dar. Vihara ist die Verweilungsstätte.“

Die drei Zustände und Handlungsweisen der liebevollen Zuwendung, des Mitgefühls und der Mitfreude werden – neben dem Gleichmut – als Glückszustände von hoher Qualität betrachtet und deshalb als „himmlisch“ bezeichnet. Das ist aus meiner Sicht von großer Bedeutung, denn es geht dabei keinesfalls um asketische Entsagung zugunsten anderer, um das Versinken in eigenes Leiden durch das Mitgefühl zu anderen oder um Gottgefälligkeit aus Angst vor Strafe oder schlechter Wiedergeburt. Sondern es geht zum Beispiel um befreiendes Mitfreuen, wenn es anderen gut geht und sie in Glück und Freude leben. Im Klartext heißt dies schlicht und einfach, dass wir selbst glückhafte, „himmlische“ Zustände erleben, wenn wir selbst solche Gefühle haben und sie handelnd umsetzen.

Wenn sich Menschen also aufgrund einer falsch verstandenen Lehre von anderen isolieren, gefühlsmäßig verkümmern, ein freudloses Leben führen und sich vor allem mit anderen Menschen aus vollem Herzen nicht mehr freuen können, dann ist das kein Buddhismus, sondern eine soziale und spirituelle Fehlentwicklung!

Die vier Himmlischen Verweilungen sind wesentliche Bereiche jedes Erleuchtungsweges und untrennbar mit dem Erwachen und der Erleuchtung verknüpft. Wer sich für andere Menschen nicht lebendig öffnen kann, wer kein Mitgefühl hat und sich nicht mit anderen freuen kann, wird aus meiner Sicht auf dem Buddha-Weg scheitern, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Er wird weder die erste und schon gar nicht die zweite Erleuchtung nach Nishijima Roshi wirklich erleben.

Ich bin sicher, dass alle großen Zen-Meister die Lehre und Praxis der Achtsamkeit, des Samādhi und nicht zuletzt der Himmlischen Verweilungen verwirklicht haben.